Bewältigungsstrategien bei sexualisierter Gewalt – Interview mit Diplom-Psychologin Julia von Weiler

Photographic representation of violence on women, hands against sheet

Sexualisierte Gewalt hinterlässt tiefe Spuren in den Seelen der Betroffenen und erschüttert das Vertrauen in die Welt. In einem Interview erklärt Diplom-Psychologin Julia von Weiler, wie sich diese Form des Missbrauchs auf die psychische Gesundheit auswirkt und welche Bewältigungsstrategien Betroffenen helfen können, ihr Leben zurückzugewinnen. Julia von Weiler betont dabei die Vielfalt der Reaktionen auf ein Trauma und ermutigt dazu, Unterstützung zu suchen. Der Fokus liegt auf Hoffnung, Heilung und der großen Bedeutung der Unterstützung durch das Umfeld und die Gemeinschaft. Die Expertin zeigt auf, dass ein erfüllendes Leben nach sexualisierter Gewalt möglich ist. 

Wie wirkt sich sexualisierte Gewalt auf die psychische Gesundheit der Betroffenen aus? Können Sie uns einen Einblick in die typischen Traumareaktionen geben, mit denen Betroffene konfrontiert sein könnten?
Julia von Weiler: Sexualisierte Gewalt erschüttert das Vertrauen in die Welt und in sich selbst. Neben anderen Verletzungen ist das eine der schwersten, die es zu heilen gilt.
Die Art und Weise, wie ein Trauma erlebt und verarbeitet wird, ist sehr verschieden. Manche Menschen reagieren aggressiv, extrovertiert, andere wiederum eher introvertiert, depressiv. Manche werden zu totalen Überfliegern, um zu kompensieren, andere wiederum schaffen es gar nicht mehr, morgens aufzustehen. Die Art und Weise, wie jemand auf ein Trauma reagiert, ist so individuell, wie wir Menschen unterschiedlich sind. Wichtig für alle zu wissen ist: Wenn jemand etwas Traumatisierendes erlitten hat, ist es sehr gut und wichtig sich Unterstützung zu suchen.

Welche bewährten Bewältigungsstrategien empfehlen Sie Betroffenen, um den Heilungsprozess zu beginnen?

J. von Weiler: Jeder Mensch geht auf seine Weise mit solchen Verletzungen um und das ist auch total in Ordnung. Es ist gut, wenn man es schafft, sich jemandem anvertrauen zu können, um damit nicht allein zu bleiben, nicht das Gefühl zu haben, ich muss das alles allein für mich regeln.
Das bedeutet für Betroffene allerdings immer: Mut zusammennehmen. Und ich weiß, das ist nicht einfach. Fällt es Betroffenen erst einmal schwer, sich jemandem in ihrem Umfeld anzuvertrauen, dann empfehle ich immer das Hilfe-Telefon Missbrauch. Da sitzen hervorragende Beraterinnen und Berater, mit denen sie sich erst einmal sortieren können. Das ist kostenlos und geht auch anonym.

Wie wichtig ist der professionelle Beistand durch Therapie oder Beratung in diesem Kontext?

J. von Weiler: Therapie und Beratung sind sehr unterstützend beim Heilungsprozess, beim Sortieren. Dabei helfen Fragen wie: Was ist passiert? Was ist mit mir passiert? Was passiert mit mir deswegen? Wie kann ich wieder zu mir finden? Denn sexualisierte Gewalt verändert das Leben unwiederbringlich.

Welche Rolle spielt die Unterstützung durch die Gemeinschaft bei der Bewältigung von sexualisierter Gewalt? Wie können Freunde und Familienangehörige dazu beitragen, ein unterstützendes Umfeld zu schaffen?

J. von Weiler: Wenn Betroffene ein unterstützendes Umfeld haben, wenn sie sich mitteilen können, wenn dieses Umfeld auch gut reagiert, dann hilft ihnen das ganz enorm bei der Bewältigung des traumatischen Erlebnisses.
Je unterstützender, je hilfreicher, je klarer, je liebevoller, je zugewandter das Umfeld ist, desto leichter haben es Menschen, die ein Trauma erlitten haben, damit auch umzugehen. Damit wir als Angehörige oder als Freundinnen oder Freunde das auch leisten können, sollten wir uns auch Unterstützung suchen. Wir können uns informieren. Häufig sind wir, wenn uns ein Mensch von einem Trauma berichtet, selbst schockiert, sind verunsichert und wissen nicht genau, wie wir damit umgehen sollen. In dem Fall ist das Internetportal www.hilfe-portal-missbrauch.de oder das Hilfe-Telefon sexueller Missbrauch eine sehr gute Adresse. Auch dieser Anruf ist kostenlos und Anrufer können anonym bleiben.

Welche Herausforderungen könnten Betroffene auf dem Weg zur Heilung typischerweise erleben?

J. von Weiler: Betroffene sexueller Gewalt müssen lernen, mit ihrer – durch die sexualisierte Gewalt beeinflusste – Lebensrealität umzugehen. Das erlittene Trauma kann an unterschiedlichen Zeitpunkten immer mal wieder zu besonderen Herausforderungen führen.
Betroffene von sexualisierter Gewalt müssen deswegen nicht ein Leben in Grauen und Schmerz und Grau in Grau führen. Wir kennen inzwischen zum Glück viele positive, kraftvolle Beispiele in der Öffentlichkeit, die uns zeigen: Ja, das war ein schlimmes Lebensereignis. Und ja, das beschäftigt mich zum Teil auch heute noch und berührt mich an Punkten, die mich vielleicht überraschen. Aber deswegen bin ich dennoch in der Lage, ein erfüllendes und glückliches Leben zu führen.
Ich glaube, das ist das Allerwichtigste: Zu lernen, dass die sexualisierte Gewalt das Leben verändert hat. Aber dass das nicht bedeuten muss, dass der Täter oder die Täterin durch die Tat Macht über den gesamten Rest meines Lebens ausübt. Und das bedeutet tatsächlich, immer wieder an mir zu arbeiten und zum Teil auch hart zu arbeiten.

Was sind Ihre Hoffnungen für die Zukunft in Bezug auf die Unterstützung von Betroffenen sexualisierter Gewalt?

J. von Weiler: Ich wünsche mir, dass wir alle lernen, selbstverständlicher über diese Themen zu sprechen. Der Appell ist vor allen Dingen an uns als Umfeld, die Betroffenen nicht immer nur durch diese Brille „der Betroffenheit“ zu sehen, sondern sie als ganzheitlichen Menschen an- und ernst zu nehmen. Mit allen Facetten, die dazugehören.
Es sollte endlich selbstverständlich werden, dass Betroffene adäquate Unterstützung in Therapie und Beratung bekommen.

Haben Sie abschließend eine Botschaft an Betroffene, die gerade ihren Weg zur Heilung beginnen?

J. von Weiler: Das Erleben von Missbrauch und sexualisierter Gewalt führt zu Erschütterung und zu Verunsicherung. Es ist gut zu wissen, dass das auch wieder anders wird. Das Leben wird wieder heller, die Farben werden wieder bunter. Die Selbstverständlichkeiten entstehen wieder. Es ist immer eine gute Idee, sich professionelle Unterstützung zu holen in Form von Therapie oder Beratung. Aber es ist auch in Ordnung, wenn das im Moment nicht der Weg ist. Wichtig ist zu wissen: Sie sind damit nicht allein. Es gibt Unterstützung, es gibt Informationen, es gibt Menschen, mit denen Sie darüber sprechen können und die Täter oder Täterinnen haben nicht unendlich Macht über Sie. Das ist, glaube ich, das Allerwichtigste, das zu wissen. 

Das Gespräch führte Adelheid Borchardt.

Zur Person
Julia von Weiler arbeitet seit 1991 zum Thema „sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ in unterschiedlichen ambulanten und stationären Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe. Seit 2003 leitet sie die Geschicke von Innocence in Danger e.V.. Sie ist Autorin diverser (Fach-)Artikel sowie des Elternratgebers „Im Netz. Kinder vor sexueller Gewalt schützen“. Mit ihrer Expertise hat sie die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) unterstützt einen Betroffenenrat einzurichten, den sie seit 2021 auch als Beraterin begleitet.

Alle Informationen und Maßnahmen der FN zum Schutz vor sexualisierter Gewalt, Kontakte zu Beratungshotlines und Hilfe-Portalen unter und Informationen zum Betroffenenrat: www.pferd-aktuell.de/deutsche-reiterliche-vereinigung/verbandspositionen/schutz-vor-sexualisierter-gewalt

Bild mit freundlicher Genehmigung von fotografiche.eu

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