Wer wissen will, welche Pferde morgen die Dressur-Szene, welche Väter den Markt beherrschen, der sollte die WM für junge Dressurpferde in Ermelo im Blick haben. Hier sind züchterische Prognosen für den Spitzensport möglich, wie Wendy de Fontaine und Glamourdale gerade aller Welt bei den Olympischen Spielen in Paris als Medaillen-Träger demonstrierten. Aus Züchtersicht hat Heiner Kanowski, langjähriger Geschäftsführer des Oldenburger Zuchtverbandes, in den Ahnentafeln der 44. Kandidaten für die 2. WM-Sichtung am 12. und 13. August in Warendorf geblättert:
Paris nahm viel vorweg: Wendy und Isabell Werth zeigen, wem die Stunde schlägt. Die erfolgreichste Dressurreiterin der Welt „Made in Germany“ nahm erstmalig bei Olympischen Spielen nicht im Sattel eines deutschen Pferdes Platz. Isabell Werth setzt auf die Sezuan-Tochter Wendy. Die dänische Stute gewann bereits die Bronze-Medaille als Fünfjährige bei der WM der jungen Dressurpferde. Sie ist ein Symbol für die Aussagekraft der WM und die Ablösung von Hannoveranern, Westfalen und Oldenburgern im Stall Werth. Für die ganze Dressurwelt wird der Einfluss der modernen dänischen Zucht über Sezuan (DWB) v. Zack (KWPN)-Don Schufro (Oldenburg)-Lionell (Holstein), selbst Träger der Triple-Crown bei der WM junger Dressurpferde, auf Deutschlands Spitzensport unübersehbar.
KWPN all over?
Diese Erbkraft und Durchsetzungsfähigkeit demonstriert bereits in der nächsten Generation sein Sohn Secret in allen Nachwuchspferdeprüfungen landauf, landab. Der Ursprung dieser beiden Hengste, Sezuan und Secret, in direkter Vaterlinie führt zum niederländischen KWPN, das mit Glamourdale einen weiteren weltmeisterlichen und olympischen Medaillengewinner stellt. Der Hengst gewann nicht nur olympisches Bronze, sondern auch die Goldmedaille bei der WM der jungen Dressurpferde, ein weiterer Beweis für die Bedeutung dieses Titels und seine züchterische Relevanz.
Haben die Nachbarn überholt?
Haben unsere Nachbarn die deutsche Dressurpferdezucht überholt? Eine Antwort ist unter den Kandidaten für die WM-Vorauswahl zu finden. 44 ausgewählte Dressurpferde aus deutscher Zucht dürfen vor der Kommission bestehend aus Bundestrainerin Monica Theodorescu und den Richtern Dr. Dietrich Plewa sowie Reinhard Richenhagen bei der zweiten Besichtigung aufmarschieren.
Es sind die KWPN-Hengste, die selbst oder mit ihren Stammhaltern die Szenerie beherrschen. Sezuans Vater Zack und Vitalis zeigen einen neuen Look, der für die Entwicklung der deutschen Dressurpferdezucht maßgebend ist. Richterin Katrina Wüst beschrieb jüngst beim CHIO Aachen den auffallenden KWPN-markentypischen Bewegungsablauf der holländischen Nachzucht mit „angeborenem Vorderknie“ – womit die Expertin die dynamische Aktion des Vorderbeins, den im Trab zur Horizontalen neigenden Unterarm und den dabei vorgetragenen starken Winkel im Karpalgelenk angesichts des Newcomers Vita di Lusso v. Vitalis-Weltano umschreibt.
Einheit statt Vielfalt
Das Bild der Genetik bei den WM-Kandidaten ist klar: Einfalt anstatt Vielfalt. Die Züchter zwischen Rhein und Oder konzentrieren sich auf wenige Hengstnamen, kaufen im Ausland einen großen Teil der auf dem Viereck von den Richtern gewünschte Mode ein. Die Trendsetter sind Sezuan, Escolar und Vitalis. Jeder zweite Kandidat bei der WM-Auswahl weist einen KWPN-Hengst als Vater oder Großvater im Pedigree aus. Allen voran steht der KWPN-Star Vitalis im Fokus. Der Vivaldi-Sohn entstammt der im schweren Sport bewährten Vaterlinie des Stempelhengstes Ladykiller xx, auf die Vitalis-Mutter wirkt Donnerhall und im Pedigree-Background des Fuchses dominiert fünffacher Blutanschluss auf Furioso xx.
Ladykiller xx (Krack C-Vivaldi-Vitalis) und Furioso xx (Zack-Sezuan-Secret), diese Stammväter sind typisch für den KWPN-Einfluss und bevölkern inzwischen alle deutschen Reitpferdezuchten. Die globale Ausstrahlung des KWPN stellt alles andere in den Schatten. Kein Geringerer als Hubertus Schmidt, Reitmeister und Vorsitzender des Deutschen Reiter- und Fahrerverbandes, hat es treffend in dem Magazin „Der Hannoveraner“ in diesem Frühjahr auf den Punkt gebracht: „Zwischen Gigolo und Glamourdale liegen Welten. Nicht nur vom Reiten, sondern auch von den Qualitäten her, die die Pferde von Natur aus mitbringen.“
Diese Feststellung ist unmissverständlich: Die Niederländer haben den deutschen Züchtern den Rang abgelaufen und die Dänen nutzen das holländische Blut frühzeitig und profitabel für ihren Fortschritt. Die Rekord-Olympiamedaillen-Gewinnerin Isabel Werth sitzt im Sattel einer dänischen Stute.
Escolar – eine Bastion
Eine Bastion Made in Germany bildet ein genetisches Bollwerk der deutschen Dressurpferdezucht: Escolar. Der bewegungsstarke Grand Prix-Hengst ist in einem Jahrzehnt zum Klassiker geworden, der sich an vorderster Front der Dressurpferdezucht und auch bei der WM-Sichtung behauptet. Die gezielte züchterische Arbeit für Escolar brauchte mehr als ein Jahrhundert, seit dem Stammvater Adeptus xx, geb. 1880 bis zur Entfaltung seines Stammhalters Escolar, geb. 2009.
Auf der Vaterseite von Escolars Ahnentafel fällt der Blutanschluss auf Ehrensold in der vierten und sechsten Generation auf. Darüber hinaus ist die Adeptus-Linie im Background des Pedigree sehr präsent. Der Westfale Escolar mit der rasanten Verbreitung seiner Hengstlinie ist ein Phänomen. Explosionsartig wurde die Erbkraft der Adeptus-Linie mit Escolar entfesselt, nachdem ihr Dressurpotential über viele Generationen vornehmlich in Westfalen gepflegt wurde und ansonsten weitgehend unbeachtet vor sich hindämmerte. Sieht der Züchter bei Escolar v. Estobar – Fürst Piccolo – Sion (KWPN) genau hin, ist auch bei ihm die holländische Attitüde unübersehbar.
Eine Parallele des Escolar-Erbes zu seinen KWPN-Kollegen dürfte ebenfalls nicht unentdeckt bleiben. Escolar ist mehrfach im Background auf Furioso xx ingezogen. Das Furioso-Blut ist allgegenwärtig. Die Verbreitung des Escolar-Blutes ist inzwischen kolossal. Nahezu jedes vierte Pferd in der diesjährigen zweiten Besichtigung für die WM hat Escolar oder einen seiner Söhne zum Vater. Darunter federführend ist der Rheinländer Escamillo mit gleich vier Nachkommen aus seinem Premieren-Jahrgang im Lot der auserwählten Fünfjährigen, je zwei aus Oldenburg und Hannover.
Authentische Markenauftritte? Eher nicht
Waren vor einem Jahrzehnt neben Sandro Hit, Weltmeyer und Donnerhall auch noch Bolero, Ramiro, Rubinstein und einige Trakehner bei der WM-Auswahl durch ihre Nachkommen mit von der Partie, beherrschen aktuell Escolar, Secret und Vitalis die gesamte deutsche Zuchtlandschaft. Überall werden diesem Trio von den Züchtern Stuten zugeführt. Diese Szenerie bei der WM-Vorauswahl wird von Hannoveranern (17 Teilnehmer), Oldenburgern (15) und Westfalen (10) beherrscht. Ein authentischer Markenauftritt der jeweiligen Zucht wird vergebens gesucht. Das war einmal anders. Es gab Zeiten in denen Zuchtleiter ihre Verbände mit PKW-Marken verglichen haben. Die Mehrheit der aktiven Züchter dürfte sich daran erinnern und meinen, ja, damals hatten wir Mercedes-Benz im Stall mit Bolero, Florestan oder Donnerhall. Das war wichtig, denn eine Marke hat eine eigene DNA. Wurzeln sind wichtig. Das Wichtigste ist, diese DNA zu erkennen, erkennen zu können. Für die Züchter, die sich damit identifizieren können, und ebenso für die Kunden – denn „da weiß man, was man hat“.
Analog zur Selektion für die WM in der Luxusklasse der Nachwuchsdressurpferde wird deutlich, was die unzähligen Online(Live)Auktionen in diesem Frühjahr und -sommer den Züchtern ebenso wie den Kunden alltäglich präsentieren: Das Angebot gibt es im Überfluss. Die Hengste in den Stammtafeln der Fohlen, oft bis in die vierte Generation, sind überall gleichermaßen als Väter präsent und ihre Nachkommen werden versehen mit verschiedenen Markenzeichen angepriesen. Als typisch sind diese Markennamen keinem Verband mehr zuzuordnen. Die Dressurpferdezucht ist beliebig geworden.
Und sonst so?
Dieser Zustand erschwert die ohnehin von der konjunkturellen Flaute bestimmte Großwetterlage am Markt. Die gute Nachricht vorneweg: Konjunkturzyklen seien erfahrungsgemäß von kurzer Dauer, so meinen viele Kenner der Szene. Ginge es also zwei, drei Jahre in Folge bergab, sei die Talsohle in wenigen Jahren erreicht, und danach sollte der Handel wieder aufwärtsstreben. „Ihr Wort in Gottes Ohr“, mögen sich diejenigen denken, die bei einem internationalen Auktionshaus derzeit um ihre Vermittlungsgeschäfte für Fohlen oder Reitpferde fürchten. Wohl zu Recht, denn nicht nur der Pferdemarkt ist betroffen.
Insgesamt geht’s im teuren Liebhaberei-Segment bergab. Ein Beispiel: Die Zahlen des weltberühmten Auktionshauses Christie’s weisen deutlich nach unten: 2,1 Milliarden Dollar hat Christie’s eigenen Angaben zufolge im ersten Halbjahr 2024 mit Auktionen umgesetzt. Das sind 22 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum – und setzt einen Minustrend fort. Nur das Exklusive auf kundenorientierten Vermarktungswegen mit einem Höchstmaß an Service – reiterlicher Ausbildungskultur – hält dieser Entwicklung derzeit und möglicherweise auch künftig stand. Heiner Kanowski